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Yvonne, die Grenzen sind offen!

Am 9. November 1989 verkündete Günter Schabowski, auf die Frage, nach dem neuen Reisegesetz der DDR: "Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen."...

..."Das trifft nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich", stammelte Schabowski. Es sind jene berühmten Halbsätze, die seit dem Tag des Mauerfalls tausendfach wiederholt wurden. (Quelle: Spiegel Online)

 

An den kompletten Tag des 9.November 1989 bis in den Abend bzw. die Nacht hinein, als dies verkündet wurde und die ersten DDR Bürger sich schon Richtung West-Berlin und Westdeutschland auf den Weg machten, kann ich mich nicht mehr erinnern.

 

Dafür aber umso mehr an den 10. November 1989. Über diesen Tag reden meine Eltern und meine Schwester heute noch. Er endete mit Tränen, aber nicht unbedingt der Freude. Aber von vorne:

Ich stand morgens auf und mein Papa stand schon vor dem laufenden Fernseher und sagte mir “Yvonne, die Grenzen sind offen”. Ich war sprachlos und dachte erstmal gar nichts. Weder war mir die Tragweite des Ganzen bewusst, noch wusste jemand, ob das für immer so bliebe. Wir gingen an diesem Morgen fest davon aus, dass sie die Grenzen wieder schließen würden. Das konnte doch nur ein Mißverständnis sein.

 

Es war immer eine Mischung aus Sehnsucht und “Ich möchte das selbst entscheiden können”

Daß ich dieses System und alles was damit zusammen hing auch schon mit 14 Jahren hin und wieder angezweifelt habe blieb natürlich nicht aus. Ich konnte mir nicht erklären, warum wir nicht nach New York oder Los Angeles durften, keine Coca-Cola hatten und ich nicht die Schwester meiner Oma in der Bundesrepublik besuchen konnte. Einfach so. Die Mauer aus Berlin Ost-und Westberlin gemacht hatte und wir einfach immer hinter dieser Mauer waren. Dieses ganze systematisch-politisch-manipulierte Geflecht konnte man ja auch eigentlich niemandem erklären. Aber die Sehnsucht loderte immer einwenig mit.

 

Letzte Ausfahrt Potsdam

Man muss dazu sagen, daß wir in Potsdam sehr nah an West-Berlin wohnten. Kamen wir von einem Urlaub oder Besuch über die Autobahn nach Hause nahmen wir immer die letzte Ausfahrt bevor es auf der Transitstrecke weiter Richtung Dreilinden und damit nach West-Berlin über die Grenze ging. Natürlich sah ich die Mauer nicht jeden Tag. Aber Griebnitzsee, Glienicker Brücke und Klein Glienicke waren allgegenwärtig. Klein Glienicke lag beispielsweise im „Grenzgebiet“, für das besondere „Sicherheitsvorschriften“ galten.  Alles also direkt vor der Haustür, aber unerreichbar. Direkt vor unserer Wohnung machten die Züge in Drewitz einen letzten Halt, bevor es über die Grenze nach West-Berlin ging. Wir konnten nachts die Hunde bellen hören, die alles nochmal “kontrollierten” und wenn wir nach Ost-Berlin wollten, mussten wir von Potsdam einmal um Berlin herum fahren. Es war grotesk.

 

Hatte ich eine schöne, unbeschwerte Kindheit?

Natürlich hatte ich eine schöne Kindheit. Wir waren zweimal im Jahr im Urlaub: Wandern und Ski fahren. Ich hatte tolle Freunde, habe Sport getrieben und unsere Familie war immer eine enge, verschworene Gemeinschaft. Mein Leben hing ganz bestimmt nicht von einer Dose Coca-Cola und Bananen ab. Aber: Ich wollte immer wissen, was hinter dieser Mauer war. Heute weiss ich es. Und ich bin sehr dankbar, daß es zu diesem Zeitpunkt passiert ist und das es friedlich und war.

 

Zurück zum 10. November

Angekommen in der Schule musste ich feststellen, daß die halbe Schule leer war. Es herrschte Ausnahmezustand, aber der Unterricht fand so gut es ging statt. Mitschüler und Lehrer waren alle Richtung West-Berlin unterwegs und in der Pause kamen die ersten mit dem Mofa zurück und erzählten, es wäre der Hammer und wir sollten uns das keinesfalls entgehen lassen. “Wer weiß, wie lange die Grenzen noch offen sind.” Also beschlossen 2 meiner Freundinnen und ich nach Unterrichtsschluss, den erstbesten Bus nach West-Berlin zu nehmen. Das bedeutete schnell nach Hause, Schulranzen in die Ecke, Personalausweis holen und wieder los. Ich traf noch meine Schwester und rang ihr das Versprechen ab, daß sie unseren Eltern auf gar keinen Fall sagen durfte, wo ich war. Sie würden sterben vor Sorge.  Wir waren aber alle so aufgeregt, daß ich keinen weiteren Gedanken daran verschwendete. Ich weiß noch, daß ich den ganzen Tag aufgeregt war. Den ganzen Tag machte sich diese unbändige Freude breit.

 

Treffpunkt Bushaltestelle. Es waren Menschenmassen an diesem Tag in Potsdam unterwegs. Jeder Bus, der vorbeikam, war voll mit Menschen und wir mussten etliche Busse vorbei ziehen lassen, bevor wir uns in einen rein quetschen konnten. Und dann ging das Abenteuer auch schon los. Wir fuhren über die Autobahn nach Dreilinden und ich konnte es nicht fassen. Alle raus aus dem Bus, Stempel in den Ausweis und dann ab nach Berlin Wannsee.

 

Dort stiegen wir aus und stellten uns an einer Bank an, um das Begrüßungsgeld zu holen, so wie alle anderen auch. Eine riesen Schlange. Plötzlich fuhr Günter Pfitzmann mit dem Fahrrad an mir vorbei und ich dachte noch aus Spaß “Das ist der also der goldene Westen” :-) 

(Ja, ich kannte Günter Pfitzmann und an dieser Stelle muss ich selber schmunzeln, aber genauso ist es passiert)

 

Das Geld steckte ich fein säuberlich in meinen Personalausweis und dann gingen wir in einen Supermarkt. Uns fielen beim Anblick von reihenweise Schokolade, Süßigkeiten und Nutella fast die Augen raus. Wir waren völlig aus dem Häuschen. Duplo, Hanuta & Knoppers - die Reklame hatte nicht zuviel versprochen. 

 

Wir blieben noch eine Weile und dann mussten wir uns auch schon wieder  zurück. Die Uhr tickte und ich sollte immer pünktlich um 19.00 Uhr zu Hause sein, wenn ich unterwegs war. Also, den richtigen Bus suchen und dann wieder zurück. Natürlich kam ich zu spät. Meine Eltern sind komplett kollabiert als ich zur Tür reinkam. Ich weiß noch, wie ich im Wohnzimmer saß und meiner Mama und meinem Papa diesen 100,00 DM Schein zeigen wollte. Aber das machte die Sache die besser. Und das ich gesund und munter wieder zu Hause war interessierte zu diesem Zeitpunkt auch niemanden.

Meine Schwester hatte dicht gehalten und mit keiner Silber erwähnt, wo ich war. Meine Mama stand neben mir und hatte Schnappatmung, ich weinte, meine Schwester hatte Partei für mich ergriffen...

Natürlich wollten meine Eltern nicht, daß ich mich allein auf den Weg in eine, nun sagen wir, fremde Welt und auch noch ins Kapitalistische Ausland machte. Niemand wusste ja, wie es weiterging. Sie hatten sich einfach Sorgen gemacht. Aber dann wollten sie nach dem ersten überwundenen Schock alles ganz genau wissen.

 

Am nächsten Morgen, also heute vor 30 Jahren, es war ein Samstag, musste ich erst in die Schule. Meine Eltern waren immer noch hin und her gerissen, aber als ich nach Hause kam, machte mein Papa die Tür auf und sagte: “Wir fahren nach West-Berlin und schauen uns alles an.” Ich weiss noch, wie ich ein innerliches Freudentänzchen aufgeführt habe. Der Rest ist buchstäblich Geschichte. Die Freude blieb bis heute. Zumindest bei mir.

 

Nicht zu vergessen:

Man ist nicht glücklicher im Leben nur weil man plötzlich einen Duplo Riegel ißt oder nach New York fliegen kann. Ich denke aber, wir müssen über die Erlebnisse wieder mehr erzählen - und auch mehr zuhören, um verstehen zu können, dass in der DDR eben nicht alles “schwarz-weiß” war. 

 

 

Wie habt ihr den 9. und 10. November 1989 verbracht?

Eure Yvonne

 

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Kommentare: 2
  • #1

    miras_world_com (Dienstag, 12 November 2019 07:57)

    Es ist schon unglaublich wie die Zeiten sich geändert haben. Wir sollten glücklich sein, dass mittlerweile fast alle Grenzen offen sind. Kein Pass notwendig. Wir sind frei und können frei entscheiden wohin ich will, wann und mit wem. Dennoch, deine Sorge von damals, dass die Grenze wieder zugeht, habe ich auch heute, wenn man überlegt was momentan überall passiert. Sehr interessanter Beitrag! Liebe Grüße!

  • #2

    Sigi (Sonntag, 17 November 2019 14:57)

    Ganz genauso liebe Yvonne war es auch für uns. Aber das schon 30 Jahre vorbei sind. Das ging schnell!
    Gruß Sigi weiter so